Zwangsterilisierung

Zwangssterilisierung in Darmstadt 1934– 1945

Am 4. September 2022 wurde an einem Seiteneingang zum heutigen Klinikum Darmstadt (Zugang Bleichstraße 19 neben dem Erinnerungsort Liberale Synagoge) eine vom Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt unterzeichnete Gedenktafel enthüllt. Sie erinnert an Frauen und Männer, die im früheren Städtischen Krankenhaus Darmstadt zwischen 1934 und 1945 Opfer der vom NS-Staat angeordneten Zwangssterilisierung geworden sind. Die Darmstädter Geschichtswerkstatt hatte nach Recherchen in Beständen des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt ein Jahr zuvor Oberbürgermeister Jochen Partsch den Vorschlag für diese Gedenktafel unterbreitet. Diese Recherchen hatten ergeben, dass nach Begutachtungen und Anträgen der früheren Gesundheitsämter in Dieburg und Darmstadt das damalige Erbgesundheitsgericht Darmstadt die Sterilisierung von weit über eintausend Menschen angeordnet hat. Nach diesen Gerichtsbeschlüssen führten Ärzte u. a. im früheren Städtischen Krankenhaus Darmstadt diese Zwangsmaßnahmen aus. Grundlage für diese Medizinverbrechen bildete das im Januar 1934 in Kraft getretene “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, dem im Herrschaftsbereich Nazideutschlands ungefähr 350.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Diesem rassistischen Gesetz hatten auch in Darmstadt Ärzte und Juristen, Pflegeeinrichtungen und Gesundheitsämter Folge geleistet. Diese Untaten wurden nach 1945 nicht als Straftaten verfolgt, die Opfer wurden vom deutschen Staat nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt und entschädigt. 

IMG 20220906 WA0026 3

Oberbürgermeister Partsch, Hannelore Skroblies (Darmstädter Geschichtswerkstatt) und Mechthild Burckhardt (Kassel) bei der Enthüllung der Gedenktafel.

Zum Tafeltext

In einem Faltblatt, herausgegeben vom Städtischen Kulturamt, erläutert die Geschichtswerkstatt den historisch-politischen Hintergrund und die Ergebnisse ihrer Recherchen. Den Hinweis auf den Aktenbestand im Staatsarchiv Darmstadt hatte Mechthild Burckhardt (Kassel) gegeben. Ihr Großvater war von 1934 bis 1940 leitender Amtsarzt des damaligen Gesundheitsamts Dieburg. Auf der Grundlage der Gutachten der Gesundheitsämter Darmstadt und Dieburg entschied das beim Amtsgericht eingerichtete Erbgesundheitsgericht in den meisten Fällen, die Sterilisierung der Betroffenen anzuordnen. Dieses Sondergericht war auch in Darmstadt eigens für diese Verfahren eingerichtet worden. Die erhaltenen Archivbestände dokumentieren das unmenschlich-bürokratische Verfahren wie die juristischen und ärztlichen Entscheidungen, denen die Betroffenen ausgeliefert waren. Das Faltblatt liegt im Foyer des Neuen Ratshauses Darmstadt (Luisenplatz 5a) zur Mitnahme aus und kann auch von der Darmstädter Geschichtswerkstatt bezogen werden.

Zum Faltblatt

Redebeiträge am 04. September 2022

Oberbürgermeister Jochen Partsch
(Redebeitrag noch nicht verfügbar)
In seinem Redebeitragt gab Oberbürgermeiste Partsch bei der Enthüllung der Gedenktafel einen Überblick über die weit zurückreichenden, bis in die Gegenwart reichende Geschichte staatlich angeordneter Zwangssterilisierung aus der Gesellschaft ausgegrenzter Menschen. Er charakterisierte diese als schwere Eingriffe in deren körperliche und seelische Unversehrtheit und als tiefgreifende Verletzung der Menschenrechte der Betroffenen. Zu ihnen gehörten neben körperlich und psychisch Kranken auch sozial diskriminierte Männer und Frauen, auch wegen ihrer sexuellen Orientierung angefeindete Menschen. 

 

Dr. med. Olaf Nagel (Riedstadt) 
Dr. med. Olaf Nagel hob hervor, wie notwendig Erinnerung an die Opfer von Zwangssterilisierung und an die Mitwirkung vieler Ärzte an diesem Verbrechen sei. Deshalb müsse im Zentrum der Ausbildung heutiger und zukünftiger Mediziner das gesundheitliche Wohl jedes Patienten und jeder Patientin als alleinige, von anderen Interessen unabhängige Aufgabe ärztlicher Bemühungen stehen.
Redebeitrag Dr. Olaf Nagel

Mechthild Burckhardt (Kassel)
Mechthild Burckhardt, die 2019 der Geschichtswerkstatt ihre Kenntnis von dem umfangreichen Aktenbestand im Darmstädter Staatsarchiv mitgeteilt hatte, stellte in den Mittelpunkt ihres Beitrags, wie belastend für sie und ihre Familie die Mitwirkung ihres Großvaters an dem damaligen Unrecht geworden sei, von der sie erst Jahre nach 1945 erfahren hatte. Sie betonte, welches Gewicht für sie die öffentliche Erinnerung an das Leid der Opfer und deren Familien habe. 
Redebeitrag Mechthild Burckhardt

 

Darmstädter Geschichtswerkstatt
Hannelore Skroblies und Christoph Jetter berichteten über die Ergebnisse ihrer Recherchen und schilderten den historisch-politischen Hintergrund. Sie zeigten Zusammenhänge auf und machten deutlich, dass die im Darmstädter Archiv aufbewahrten Dokumente die Auslieferung gesundheitlich geschwächter und sozial ausgegrenzter Personen an das rassistische NS-System der Menschenverachtung in erschreckenden Einzelheiten widerspiegeln.


Redebeitrag Hannelore Skroblies/Christoph Jetter

Geheimaktion Zwangssterilisierung von „Besatzungskindern“ (1937)
Im Archivbestand des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt zum Gesundheitsamt Dieburg findet sich ohne weitere Erläuterung eine Einzelakte mit dem „Vermerk Sonderkommission I /Wiesbaden“ (Überschrift) mit Datum vom 16. 08. 1937. Der Vermerk gibt in wenigen Zeilen wieder, wie mit vier jungen Männern verfahren wurde, die in den 1920er Jahren geborene Kinder „farbiger“ französischer Besatzungssoldaten waren. Es handelte sich bei ihnen um Verfolgte der geheim gehaltenen Aktion gegen „farbige“ Besatzungskinder, deren Zwangssterilisierung Hitler im April 1937 persönlich angeordnet hat. Diesem Verbrechen fielen im Sommer 1937 zwischen 400 und 600 junge Männer und Frauen zum Opfer. Im hetzerischen NS-Jargon wurden sie „Reinlandbastarde“ genannt. Welche konkrete Vorgeschichte im Bereich des damaligen Gesundheitsamtes Dieburg diesem Vermerk vorausgegangen war – Fragen: war nach den Betroffenen im Amtsbereich Dieburg gesucht, waren sie dem Gesundheitsamt Dieburg gemeldet worden, ggf. von wem und wann genau? -, ist dem Vermerk nicht zu entnehmen. Die Zugehörigkeit dieser vier Einzelschicksale zu der Geheimaktion ergibt sich jedoch aus der Überschrift „Vermerk Sonderkommission I/ Wiesbaden“. Diese Kommission war - neben zwei weiteren – eingesetzt worden, um im Anschluss an den Hitler-Befehl vom April 1937 die angeordneten Zwangssterilisierungen auszuführen.

mehr dazu hier.


Informationsquellen
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Signaturen HStAD G 29 U Erbgesundheitsgerichte / HStAD 15 Dieburg; 
Ingo Müller: Furchtbare Juristen, TB-Ausgabe München 1969, insbes. S. 221 ff (230); Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt/M. 1983; Renate Jäckle: Die Ärzte und die Politik 1930 bis heute. München 1988 (insbes. S. 107 ff.); Monika Daum, Hans-Ulrich Deppe: Zwangssterilisation in Frankfurt am Main 1933-1945. Frankfurt 1991; Jessika Hennig: Zwangssterilisation in Offenbach am Main 1934-1944. Frankfurt/M. 2000, Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“. Frankfurt/M. 2005; Margret Hamm (Hg.): Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-„Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2017; Armin Trus: Die „Reinigung des Volkskörpers“. Eugenik und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus. Berlin 2019